Viele Menschen scheuen sich davor, einen Friedhof zu besuchen. An diesem Ort wird ihnen die eigene Endlichkeit bewusst. Wer sich einlässt, dem erzählt der Friedhof vieles über Menschen und deren Herzen. Ein Besuch am Grab des lieben Menschen spendet Trost. Altehrwürdige Bäume stellen diesen besonderen Ort unter den Schutz ihres Blätterdaches und machen den Friedhof zum Ort der Stille. Blumen, auch persönliche Gegenstände, schmücken die Gräber in jeder Jahreszeit. Ich begleitete die Fotografin Anika Krisch auf einem ihrer Streifzüge auf dem Friedhof. Und ich durfte ihr beim Planen eines ihrer größten Projekte – Fotografieren auf dem weltweit größten Parkfriedhof: dem Friedhof Hamburg Ohlsdorf – über die Schulter schauen. Heute lade ich dich ein: Lass dich mitnehmen auf diese Entdeckungsreise.
Fotografischer Streifzug zu Besonderheiten auf Friedhöfen
Anika Krisch entdeckt den kulturellen Reichtum letzter Ruhestätten
Ihr Zeigefinger tippt auf das grün umrundete H auf gelbem Grund. „An dieser Bushaltestelle steige ich aus. Von hier sind es nur wenige Gehminuten zum Grab von Carl Hagenbeck.“ Vor Anika Krisch liegt der Plan des Hamburger Friedhofs Ohlsdorf auf dem Schreibtisch ausgebreitet, daneben einige Prospekte. Das Grab mit dem gusseisernen Löwen hat es der Fotografin angetan. Bereits jetzt, während des Planens ihrer Fotoreise in den 650 Kilometer entfernten Norden Deutschlands steht fest: „Das werde ich auf jeden Fall fotografieren.“ Die letzten Ruhestätten von Heinz Erhardt und Richard Ohnesorg interessieren sie ebenso wie die des Begründers dieses eindrucksvollen – und zugleich weltweit größten – Parkfriedhofs: Wilhelm Cordes. Die Gestaltung des 389 Hektar großen Friedhofs mit Seen, Teichen, zahlreichen Wasseranlagen trägt seine Handschrift. „Es fasziniert mich, immer wieder aufs Neue zu entdecken, dass Friedhof nicht gleich Friedhof ist“, sagt Anika Krisch. Zwei Tage will sie ihrem fotografischen Auge gönnen, unterschiedlichste Eindrücke mit ihrer Kamera festzuhalten.
„Die Stille empfinde ich heute noch als wohltuend.“
Seit sie Kind war, fasziniert die Schwäbin der Friedhof. Oft begleitete sie die Mutter dorthin, ließ sich von spielerisch beschäftigen: Aus den Geburts- und Todesdaten auf den Grabsteinen errechnete sie das Alter der Bestatteten. Die Atmosphäre dieses Ortes sog sie in sich auf: „Die Stille empfinde ich heute noch als wohltuend.“ Längst ist es nicht mehr nur der Friedhof ihrer Kindheit, der Anziehungskraft auf Anika Krisch ausübt. Mehr als drei Jahrzehnte nach ihrem ersten Kontakt mit einer Welt, die viele Menschen scheuen, hat sie großes Interesse für letzte Ruhestätten entwickelt. Ihr erster Fotoapparat wurde zum verlässlichen Begleiter, der half, ihre Entdeckungen zu dokumentieren. Später begann die hauptberufliche Medienfachwirtin ferne Länder zu bereisen. „Damit erweiterten sich meine Möglichkeiten enorm, Friedhöfe und ihre Besonderheiten aufzustöbern“, betont Anika Krisch. Etwa auf Reisen nach Island, auf die Galapagos-Inseln, Madagaskar, Teneriffa oder in Städte wie Wien und Paris. Aus diesen und weiteren Fotos stellte die 39-Jährige vor einem halben Jahr einen Streifzug über Friedhöfe verschiedener Länder zur Fotoschau zusammen und präsentierte sie in Zusammenarbeit mit der Hospizgruppe Bönnigheim – musikalisch garniert von Uli Staudenmaier – vor einem berührten Publikum in der Kirche in Bönnigheim-Hohenstein im Landkreis Ludwigsburg.
Gräber wurden zu Wallfahrtsorten
Eindrücke beispielsweise vom Friedhof Père-Lachaise Paris: Die Gräber von Edith Piaf, Jim Morrison, Oscar Wilde sind als Wallfahrtsorte üppig mit Blumen geschmückt. Sie faszinieren die Betrachter ebenso wie einer der schönsten Friedhöfe Deutschlands, Friedhof St. Johannis: Inmitten Nürnbergs gelegen ist er 500 Jahre alt. Das Foto zeigt liegende, sandfarbene Grabsteine, dazwischen nur Sand, als Farbtupfer rotblühende Geranien, die in der Sommerhitze 2015 über jeden Schluck Wasser dankbar waren.
Sie klickt weiter. Von Nürnberg geht es nach Haaren bei Aachen: Weiße Holzkreuze soweit das Auge reicht. „Das Credo dieses Friedhofes“, so erklärt sie, „ist: Nach dem Tod sind alle Menschen gleich.“ An keinem der Gräber ist erkennbar, ob der Bestattete zu den oberen Zehntausend gehörte oder als Hartz IV-Empfänger lebte. Ein weiteres Meer von Kreuzen – dieses Mal steinerne – begegnet Anika Krisch auch in Belgien auf dem Soldatenfriedhof Lommel, wo 40.000 Soldaten beigesetzt sind. „Die Atmosphäre hat mich so erdrückt, ich musste mich auf den Boden setzen“. Das Thema Meer bleibt. Diesmal an der Küste Islands. Um eine Holzkirche gruppieren sich verstreute Gräber vor weitläufiger Landschaft. Im Hintergrund ragen schneebedeckte Vulkane auf. Ein eigenwilliges Szenario entwirft auch die Nordseeinsel Juist: inmitten von Dünen ist ein Friedhof angelegt. Schwenk zur Vegetation Teneriffas und Madagaskars: Letzte Ruhestätten sind eingebettet zwischen Hotels und Palmen. Im Dschungel unter einem großen Felsvorsprung zeigen die Bilder Sarkophage, geschmückt mit bunten Tüchern, von Spinnweben überzogen.
Einer der kleinsten Friedhöfe in Deutschland
Manchmal zieht es Anika Krisch auch nur vor die eigene Haustür: Zu einem der kleinsten Friedhöfe Deutschlands. 13 Gräber beherbergt er, gelegen auf dem Michaelsberg. Dort befindet sich die „Gedenkstätte für nicht bestattetes menschliches Leben“, die als offenes Grab gestaltet ist. Sie tippt auf dem Tablet bis die Kieselsteine der 20 Zentimeter tiefen Grube zu sehen sind. Allen, die ihren lieben Menschen nicht hatten bestatten können, bietet der Ort Möglichkeit zu trauern: Um Vermisste, Angehörige, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, Kinder einer Fehlgeburt. Sie wischt mit dem Finger übers Display. Fotos vom alten jüdischen Friedhof in Freudental erscheinen, wo die Fotografin aufgewachsen ist. Er beherbergt 435 Gräber, am Waldrand außerhalb des Ortes gelegen. Die Inschriften der Grabsteine verraten die Stellung, die der Verstorbene innerhalb der jüdischen Gemeinde einst hatte. Anika Krisch legt das Tablet zur Seite.
Seltenheit in Deutschland: Fotos auf dem Grabstein
Klick – klick, klick. Sie nutzt die Frühlingssonne für Aufnahmen auf dem Hauptfriedhof Heilbronn. Sie setzt die Kamera ab, sieht aufs Display: „Fotos auf dem Grabstein sind in Deutschland eine Seltenheit.“ In Hocke rückt sie die lila-gelben Stiefmütterchen in den Vordergrund der beiden fotogeschmückten Grabsteine. Nun noch zwei Schritte nach rechts, ein Klick – klick, klick von der Seite, bevor sie kniet, die Kamera fast auf den Boden legt, um neuen Blickwinkel zu gewinnen. Zahlreiche Aufnahmen später, beim Innehalten auf der Bank vor den Gräbern der Sternenkinder, gleitet ihr Blick über die bunt geschmückten Ruhestätten – mit Windrädern, Plüschtieren, Herzen – und vertieft sich in der Wiese dahinter. Sie begrüßt es, dass das kurze Leben von Sternenkindern seit einigen Jahren mit einem Grab Würdigung findet. Auf dem Babyfriedhof in Wien verblüffte sie der Kontrast: Verwaiste, verlassene Gräber inmitten von Sternenkindergräbern, die überquollen vor Liebesbeweisen der Eltern an ihre Kleinsten. Das Grab eines Mädchens, das für zwei Wochen das Licht dieser Welt erblickt hatte, „sah aus wie ein Kinderspielzimmer“. Mitgefühl spiegelt sich in ihrem Blick.
Mausoleen, Kolumbarien, Ruhewald, Schmetterlingsgräber, Gräber für sämtliche Glaubensrichtungen
Tage wird sie mit ihrem Fotorucksack brauchen, um die 17 Kilometer Wege in Hamburg-Ohlsdorf zu erkunden, die ihr Finger jetzt in Sekundenschnelle streift. Entlang zahlreicher Bushaltestationen offenbart der Parkfriedhof eine bemerkenswerte Vielfalt: Mausoleen, Kolumbarien, Ruhewald, Schmetterlingsgräber, Beisetzungsstätten für sämtliche Glaubensrichtungen, Orte des Gedenkens wie beispielsweise der Sturmflutopfer von 1962. 315 Menschen waren damals ums Leben gekommen. So wichtig die Planung ist: Anika Krisch gönnt sich auch Freiraum fürs Spontane, für die Entdeckerlust, Kreativität – und für Zeit, die sie einfach mit ihren Liebsten genießt. Ihre Website www.grabangrab.de lädt ein zum Eintauchen in die Besonderheiten unterschiedlichster Friedhöfe.
Prima geschrieben, Danke.